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Singt! Singt! Singt!

Philly – der „keine-Ahnung-wievielte“ April. Irgendein Wochentag. Pessach. Das Fest, an dem sich Juden an den Auszug aus Ägypten erinnern und die Befreiung von der Sklaverei feiern. Heute Abend beginnt es. Das zumindest weiß ich. Vornehmlich Dank der vielen „Chag Pessach Sameach“-Posts meiner Facebook-Freunde. Und meinem Luach, dem jüdischen Kalender, den ich befragt habe. Ansonsten habe ich mein Zeitgefühl in der Isolation so gut wie verloren. Ich unterscheide durch den Job meines Mannes nur noch zwischen wochentags (er arbeitet) und Wochenende (er arbeitet nicht). Ansonsten war es eigentlich wie immer. Die Kommunikation zwischen dem Mann und mir läuft dann ungefähr so… Er: „Müsste nicht bald Pessach sein? Wir wollten doch mit XY den 1. Seder machen.“ – Ich: „Hmmm, ja stimmt. Hat sich XY nicht gemeldet?“ – „Nee.“ – „Weisst Du denn, am wievielten Erev Pessach ist?“ – „Puh… nee.“ – „Ich schaue mal… [google oder checke den Luach]… ach du Sch***… das ist ja schon nächste Woche!!!“ – „Waaaaaassss?“ [Mann schreibt XY ne WhatsApp] – „Nächstes Jahr müssen wir uns zu Beginn des Jahres die Feiertage notieren und auch bestimmte Tage schon frei nehmen. Jetzt putzen wir wieder nebenbei die ganze Bude. Boaaa…!“ [Frust ist zu hören] – „Ja das machen wir auf jeden Fall!“ [Währenddessen: XY ist genauso überrascht wie wir. Der Mann klärt rasch mit ihm per WhatsApp die Speiseplanung]

Dieser Ablauf ist mittlerweile zu einer Art Familientradition geworden. In diesem Jahr ist aber alles ein wenig anders. Sowieso kein gemeinsamer Seder mit anderen geplant, ich habe keinen Job, von dem ich freinehmen könnte. Der Krümel lehnt jeden Urlaubsantrag rigoros ab. Voll der Sklaventreiber, wenn wir schon beim Thema sind. Aber leicht spät dran waren wir trotzdem. Dennoch dachte ich: „Ach, noch einige Tage… kein Job. Endlich mal genügend Zeit zum Putzen und Vorbereiten. So, wie in den ganzen Jahren seitdem wir zusammen gezogen sind, immer geplant.“ Haha. Denkste. Ich hatte da was vergessen. Die. Kita. Hat. Zu! Dank meines kleinen Sklaventreibers fand ich mich wie immer im Stress zwischen einkaufen, putzen, kochen und Kids Entertainment und Toilettentraining wieder. Der Krümel hat nämlich am Wochenende beschlossen, keine Windel mehr tragen zu wollen (zumindest zu Hause) und auf die Toilette zu gehen. Das ging relativ schnell relativ gut, aber bedarf  teilweise noch sehr schneller Reaktion. Als ich also vorgestern eine gute Stunde lang alle zwei Minuten mit ihm aufs Klo rannte, verabschiedete ich mich von dem ich-habe-genügend-Zeit-für-alles Gedanken und entschied, mich nur ins Nötigste zu kümmern. Richtig Lust, diese fremde Übergangswohnung kompletti auf den Kopf zu stellen, um jede kleinste Ecke vom Chametz (Gesäuertes) zu befreien, so wie es zu Hause habe, kam hier nicht auf. Ich konzentrierte mich also auf die Küche und das Wohnzimmer. Immerhin war auch der Druck an sich nicht so groß wie sonst. Keine vielen Leute zu Besuch. Keine zigtausend Gänge. Keine schöne Tischdekoration. Den Krümel interessiert die Deko eh nicht und unsere Möglichkeiten hier in der Wohnung sind auch stark begrenzt. Die Speiseplanung war daher auch easy (leichter als ich dachte, denn mein Göttergatte ist nicht immer so einfach bei der Essenauswahl): Matzeknödelsuppe und danach Hähnchen aus dem Ofen. Matzeknödelsuppe, weil Pessach ohne sie kein Pessach ist, und Hähnchen, weil wir den Knochen für den Seder-Teller brauchen. 

Ich habe also die letzten Tage einiges geputzt und den eigentlichen Tag heute zum Kochen reserviert. Und dafür, mich hübsch zu machen. Das kommt nämlich hier im Lock-Down total zu kurz. Ich bin ja schon froh, wenn ich regelmäßig dusche. Ansonsten ist Make-Up Fehlanzeige. Für wen? Für was? Nur für mich alleine? Auch unnötig. Aber auch meine Jogginghosen und Hoodies sind wahrscheinlich froh, wenn das Ganze vorüber ist und sie mal wieder ne Pause bekommen. 

Das war der Plan. Das wurde umgesetzt. Hallelujah! Auch wenn ich während der Vorbereitungen gelegentlich unentspannt gewirkt haben mag – und hier und da vielleicht auch war *räusper* – ist alles zur vollsten Zufriedenheit aller Beteiligten gelaufen. Ich habe eine ganz hervorragende Gemüse-Brühe für die Matzeknödel gezaubert. Da zahlen sich die vielen Folgen „Kitchen Impossible“ doch aus. Auch das Hähnchen aus dem Ofen ist sehr schmackhaft gelungen. Ich habe mich für mich, den Krümel und meinen Mann geschminkt und ein Kleidchen angezogen. (Mega Sache das!) Aber wirklich von allem am besten ist, dem Krümel zuzuschauen. Er liebt Singen. Und da viele Gebete gesungen werden: Bingo. Er hat einen Siddur (Gebetbuch) oder heute die Haggadah (das Buch zu Pessach mit der Geschichte des Auszugs) In der Hand, wahlweise seine Holz-Mikro dazu, und singt und klatscht leidenschaftlich… „Aijaijaijaijaijai… AMEN!“ Zwischendurch ruft er „WEIN!“ und trinkt glücklich seine rote Traubensaftschorle. Als es zum Essen geht lehnt er dankend ab und sagt „weiter singt“. 

„Aijaijaijaijaijai… AMEN!… WEIN! …. Weiter singt!“

Der Krümel (Pessach 2020)

Und ich bin froh. Froh, dass er die Einschränkungen in diesem Moment nicht wahrzunehmen scheint. Froh, dass wir zusammen ein leckeres und nahrhaftes Pessach-Essen haben. Froh, dass wir zusammen sein können. Froh, dass er ein so fröhliches und glückliches Kerlchen ist, obwohl auch an ihm die Situation nicht unbemerkt vorbeigeht. Froh, dass er so viel Spaß hat… und wir auch. Und uns beim gemeinsamen Singen und Beten ein wenig von der Enge der Lage befreien. 

Mögen wir uns alle bald wieder gesund und befreit wiedersehen. Nächstes Jahr in Jerusalem! Chag Pessach Sameach und frohe Ostern! 

6 Kommentare

  • Verena

    Schnuggi, das liest sich mittlerweile alles wie ein Buch, wie super geschriebene Memoiren. 🙂 Glaub mir, eines Tages wirst Du das mit Erstaunen und voller Dankbarkeit lesen – es ist ein wichtiger Teil Eures Lebens. Und auch das Negative geht irgendwann vorbei der Zuwachs an Energie, den man dann hat, ist wichtig.

    *dickendrücker* Verena

  • Mama Mütze

    Ich stimme Verena voll zu, liest sich prima und ich hab immer ein bissl Pipi in den Augen 🙈 Das mit dem schminken und Jogginghose …uuuurrrgggg, geht mir auch so ..sonst immer nur im Urlaub auf dem Campingplatz, jetzt seit gefühlten 10 Monaten auch zuhause 🤪 Bloß gut, dass ich ab und an ins Büro muss ☺️

  • Verena

    Liebe Mama von Nadine –

    in so vielen Jahren haben Ihre Tochter und ich uns ein Büro geteilt. Wir haben zusammen gelacht und auch geweint. Ich wünschte, der 17.1.2020 wäre nie passiert und ich hätte Mutti noch. Ihre Tochter ist ein außergewöhnlicher Mensch. Unangepasst, ehrlich um jeden Preis, rebellisch, mit Herz & Schnauze. Immer auf der Suche nach sich selbst und der Wahrheit. Warum? Nun, ich bin felsenfest davon überzeugt, dass Herkunft eben DOCH etwas ausmacht. Uns Ossi’s kriegt man nicht klein.

    Irgendwann – genauer, in 9 Jahren – werden Nadine und ich uns wiedersehen. Wir wissen noch nicht, wo. Wir wissen aber sehr wohl, dass und wann.
    Erfahrungen und das Leben nimmt uns keiner. Mit Nadine ging etwas, was sich Identifikation nennt. Eine Seelenverwandte – wir waren nicht immer einer Meinung, aber das war und ist niemals eine Grundvoraussetzung für bedingungslose Sympathie & Freundschaft.

    Nadine, meine Omi hat 1987 zu mir etwas sehr, sehr Wichtiges gesagt: „Von den Menschen, die Dein Leben einmal maßgeblich beeinflussen werden, hat gerade mal die Hälfte Deinen Weg gekreuzt!“ Sie sollte recht behalten, wie immer. Nimm diesen Satz an, und plötzlich ist das Leben anders. Besser. Voller Überraschungen und Wendungen … nehmen wir es an. Und treffen uns dort, wo alles seinen Anfang nahm. 🙂

    • dorfmama

      Da hab ich jetzt aber auch Pipi in den Augen. Danke, Ihr beiden! Und danke, liebe Verena, für Deine Worte und Deine Unterstützung insbesondere im letzten Jahr. Du hast viele Tage für mich leichter gemacht. Und Deine Omi war eine sehr kluge Frau. 🙂 Ich bin sehr auf all die Geschichten gespannt, die wir uns in neun Jahren erzählen werden. <3

    • Mama Mütze

      Liebe Verena, bitte nenne mich Conny ☺️ Und danke für diese tollen Worte über Nadine. Sie fehlen mir sehr und ich weiß gar nicht, wie ich die Zeit überstehen soll. Das mit der Herkunft, vor allem der Ossi‘s, merke ich auch sehr oft und das wird auch noch so lange bleiben, wie eure Generation lebt. Ich bin jedenfalls froh einer zu sein 🤣 Erkläre mir doch bitte noch, warum seht ihr euch erst in 9 Jahren wieder?

  • Verena

    Huhu, Ihr beiden 🙂

    Conny nehme ich sehr gerne an, danke schön. Tja, warum fehlen manche Dinge und andere wiederum nicht? Es hat – aus meiner Sicht – zuallererst etwas mit Identifikation zu tun. Geht einem die verloren, ist man ein neutrales Gewächs der Gesellschaft. Nadine und ich haben sie beide, und nicht immer stößt diese Bedingungslosigkeit dazu auf Gegenliebe.

    Als feststand, dass Nadine gehen wird, haben wir uns auf ein festes Treffen in 10 Jahren geeinigt, als Fixpunkt, an dem nicht gerüttelt wird und ohne zu wissen, wo wir dann sind.

    Das schließt ein vorheriges Treffen keinesfalls aus, aber wir wollten eine feste Größe – auch, weil wir wissen, dass der Gesprächsstoff eines solch langen Zeitraums abendfüllend sein wird. In 10 Jahren bin ich hoffentlich Rentnerin und kann frei über meine Zeit entscheiden. Was immer bis dahin passiert, wir werden uns auf dem Laufenden halten. 🙂

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