Von den Emotionen überrollt
Seit fast vier Wochen hab ich nichts zu Papier bekommen. Die Gedanken sind so schwer zu ordnen, aber sie wollen raus. Immer wieder fange ich an, schreibe was, lösche es wieder, schreibe um, werde nicht fertig, fange am nächsten Tag wieder an. Mit neuen Gedanken, anderen Worten, aber zum gleichen Thema. Seit vier Wochen: George Floyd. Aber es geht um viel mehr. Es geht um Rassismus. Um systematischen Rassismus. Um Rassismus gegen schwarze Menschen. Um white privilege. Ein Unrechtssystem. Unterdrückung, Gewalt, Wut, Proteste, Randale, Veränderung. Es brach auf einmal über uns herein. Emotional, unausweichlich. Als Gast in einem fremden Land, einer fremden Kultur. Als Expat gerade damit beschäftigt die Oberfläche dieser Kultur abzutasten und kennenzulernen, zeigen sich Dir auf einmal die Abgründe auf. Die Wunden offen gelegt, blutend, schmerzend. Wie im ganzen Land, so auch in Philly.
Ein erster Versuch, die Gedanken zu ordnen
Ich merke, es ist alles zu viel, um es in einem Beitrag zu stopfen. Also beginne ich mal damit, wie alles los brach:
Es ist der Samstag nach dem Mord an George Floyd während seiner Festnahme durch mehrere Polizisten. Das Thema ist allgegenwärtig. Auch wir unterhalten uns grad darüber. Wir sind mit einem befreundeten Pärchen in einem State Park Grillen. An der frischen Luft, socially distanced selbstverständlich. Gegen 19.30 Uhr dann einen Anruf unserer Relocation Consultant: „WO SEID IHR?“ Die Wut bricht sich Bahn auf den Straßen. Zum Ende des ersten großen Protestzugs in Philly brechen Randale aus. Polizeiwagen werden in Brand gesteckt, Geschäfte geplündert. Das Stadtzentrum wird abgeriegelt. Genau dort, wo wir wohnen, herrscht das Chaos. Eine Ausgangssperre ab 20 Uhr wird verhängt. Es ist unklar, ob wir nach Hause kommen. Als Berlinerin an ausartende Demos gewöhnt, bleibe ich ruhig. Auch der Mann ist noch vergleichsweise entspannt. Zu 20 Uhr schaffen wir es sowieso nicht mehr rechtzeitig, also packen wir zwar langsam zusammen, aber stressen uns nicht. Je später wir fahren desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Gröbste vorbei ist, denken wir. Gut gedacht, falsch gedacht. Wir brauchen statt 35 Minuten anderthalb Stunden nach Hause. Wegen Straßensperren irren wir um’s Stadtzentrum, diskutieren mit Polizisten, uns durchzulassen, sind letztendlich zum Glück an irgendeiner Stelle erfolgreich. Als wir in unsere Straße biegen, rennen jede Menge Menschen über die Straßen, vor’s Auto. Im Arm, massenweise neue Klamotten, geklaut in den Geschäften um die Ecke, auf der Market Street. Sie halten in Ecken und Hauseingängen, versuchen sie schnell anzuprobieren, um Dinge, die nicht passen, nicht unnötig mit zu schleppen. Wir im Auto mittendrin. Aber keinen interessiert‘s. Sie lassen uns in Ruhe. Wir sie sowieso.
Wir halten vor unserem Haus. Vor uns ein anderer Geländewagen. Ein junges Pärchen steigt aus und holt seine Taschen aus dem Kofferraum. Er im Golf-Outfit, offensichtlich gut situiert, aber mit einem Ausdruck im Gesicht, der mir Angst macht. Er blickt auf die Plünderer und man kann ihm seine Abscheu ansehen. Er nimmt einen seiner Golfschläger aus dem Golf-Bag und gestikuliert als würde er damit sofort auf jemanden einschlagen, würde er sich ihm oder seinem teuren SUV nur nähern. Sofort denke ich: „Klar! Angst um Deine teure Karre, Du Vollidiot!“ Ich habe keine Angst um unser Auto. Ich habe Angst um mein Kind, um uns. Aber nicht wegen der Plünderer um uns herum, die uns überhaupt nicht wahrnehmen, sondern wegen eines Typs, der anscheinend für seine (sorry!) Scheisskarre jemanden mit einem Golfschläger verprügeln würde. Wir verziehen uns schnell, aber nicht wie sonst zu unserem Garagenstellplatz drei Blocks weiter sondern in die teure Tiefgarage in unserem Apartment-Gebäude, von der wir auch direkt ins Haus kommen und nicht raus müssen.
Sechs Etagen über dem Chaos versuche ich den Krümel ins Bett zu bringen. Nicht so einfach. Und auf einmal: Alarm. Eine freundliche Stimme vom Band sagt: „Dear residents, there has been an emergency reported. We are verifying the situation. Please remain calm and stay in your apartments until further notice.“ – „Liebe Bewohner, es wurde ein Notfall gemeldet. Wir prüfen die Lage. Bitte bleiben Sie ruhig und verbleiben Sie bis auf weiteres in ihren Wohnungen.“ Das sagt die Stimme immer wieder, unterbrochen vom Uiuiuiuiuiu des Feueralarms. Der Krümel ist begeistert. Ich werde jetzt nervös. Nix mit einschlafen. Er sagt fröhlich aufgeregt: „Mama! Uiuiui! Sam kommt!“ und meint damit seine derzeitige Lieblingsserie „Feuerwehrmann Sam“. Ich versuche locker zu klingen, ziehe ihm etwas über und suche die wichtigsten Sachen zusammen für den Fall, dass wir doch noch das Gebäude verlassen müssen: Geld, Pässe, Autoschlüssel, Telefone, andere wichtige Dokumente. Nach ner gefühlten Ewigkeit – Entwarnung. Der Wawa Supermarkt unten in unserem Gebäude wurde geplündert. Beim Einschlagen der Scheiben ging der Alarm los. Für die Bewohner keine Gefahr. Gegen 23 Uhr wird es leiser, wir gehen ins Bett. Die Nacht bleibt ruhig.
Die darauffolgenden Tage und Nächte weiterhin Proteste. Erst alles friedlich. Zum Abend hin immer wieder einige „hot spots“ mit Randalen und Gewalt. Polizei reagiert teils über, teils wird geplündert, teils finden sich „zivile Verteidigergruppen“ zusammen und stellen sich den Demonstranten und Randalierern entgegen, um „sich und ihre Geschäfte“ zu schützen. Einer schießt sogar. Es herrscht weiterhin Ausgangssperre zwischen 18 und 6 Uhr. In Coronazeiten fällt mir das aber kaum auf. Die Straßen sind eh immer leer.
Nachmittags führt die Protestroute an unserem Gebäude vorbei. Die Situation bewegt mich zutiefst. Ich verstehe die Wut und Aggression. Ja kann sogar die Zerstörungswut ein wenig verstehen. Die friedlichen Stimmen wurden einfach zu lange nicht gehört. Gleichzeitig wird mir klar, dass wir als Weiße nie verstehen werden, wie es ist nicht-weiß zu sein. Ich möchte mitlaufen. Ich möchte demonstrieren. Ich möchte schreien. Ich möchte wütend sein. Ich möchte kämpfen. Für Veränderung. Für Gerechtigkeit. Für George Floyd. Für Breonna Taylor. Für Ahmaud Arbery. Und für alle anderen.
Aber mit dem Krümel? Das ist mir dann doch zu unsicher. Ohne den Krümel geht nicht. Also gehe ich nicht. Aber es fällt mir schwer. Ich beschließe, den Protesten von der Gemeinschaftsterrasse beizuwohnen. Wir stehen also – weiß privilegiert – auf der Terrasse unseres überteuerten Apartment-Gebäudes und schauen von oben herab. Ich fühle mich schlecht. Als eine der Demonstrantinnen von unten zu uns nach oben fotografiert drehe ich mich weg. Es ist mir peinlich, hier oben „in Sicherheit“ zu stehen anstatt unten „mitzukämpfen“. Aber die Emotionen der Proteste bewegen mich. Das Gefühl, so dabei sein zu können, ist zu stark. Ich bleibe. Ich will Präsenz zeigen.
Während der Gespräche mit Freunden, der Diskussionen mit amerikanischen Familienmitgliedern, bei jedem Post aber dieses latente Gefühl: Darf man sich als Gast in diesem Land zu dem hier herrschenden Rassismus äußern? Zu dem System hier? Zu der Kultur? Den Menschen? Der Regierung? Den politischen Ansichten? Für mich ein klares JA. Man darf nicht nur, man muss. Und nicht nur hier sondern auch im eigenen Land. Denn Rassismus geht uns alle an. Und er ist überall. Egal ob in den USA, Deutschland oder Timbuktu. Er geht uns alle an. Immer.
Ich will kämpfen. Für das Gute. Nur durch uns, jeden einzelnen, kann Veränderung herbeigeführt werden. Aber immer wieder überkommt mich diese Hilflosigkeit. Es ist so komplex, so tiefgreifend, so allgegenwärtig. Nicht nur hier in den USA, auch in meinem Heimatland, Deutschland. Wo fängt man da an? Ich mache mir unentwegt Gedanken und versuche weiter zu ordnen, was mir im Kopf herum geht. Da ist noch viel drin, was raus will…
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